Ein Jahr
Was ist eigentlich ein Jahr? Ein Jahr besteht aus 365 oder 366 Tagen etc. Wir alle kennen die Zahlen, aber können wir sie auch füllen, sie „beseelen“? Wer kann schon genau sagen, was er an jedem einzelnen Tag eines Jahres getan hat? Das ist an sich nicht weiter schlimm, aber ist es nicht so, dass wir im Grunde viel zu schnell durch dieses Jahr, durch diese 365 Tage gehen? Ereignis folgt auf Ereignis, doch manchmal können wir diese gar nicht richtig greifen, fassen, verarbeiten. Also warten wir unentwegt auf das nächstfolgende Ereignis, immer weiter fort, bis eines Tages ein Jahr vorüber ist. Doch ist es das, was wir wollen? Können wir überhaupt etwas anderes tun? Zwingen uns nicht die Arbeitswelt, die sozialen Verpflichtungen, allgemein unser Dasein als gesellschaftliches Wesen dazu, so zu handeln? Eine Entschleunigung des Ganzen scheint nicht möglich.
Nun mag es dennoch Menschen geben, die genau dem widersprechen. Diese Menschen scheinen eins mit sich selbst zu sein, mit ihrer Umgebung. Doch sind sie es wirklich? Was fühlen sie in ihrem Inneren? Und da sind wir wieder bei diesem Jahr… 365 Tage, doch wesentlich mehr Emotionen. Wie oft haben wir in einem Jahr Freude, Wut, Erregung, Hass, Glück oder Trauer gespürt? Wie oft sind diese miteinander verschmolzen? Kann man deren Anzahl überhaupt fest machen?
So viele Fragen, doch keine richtigen Antworten. Die Wissenschaft kann uns ganz genau sagen, was ein Jahr ist, doch können wir das begreifen? Was ist für uns ein Jahr? Eine Ansammlung von Ereignissen und mannigfaltigen Emotionen? Innerhalb eines Jahres kann so viel passieren. Das ganze Leben kann sich verändern, man kann aber auch Tag auf Tag in seinem „Hamsterrad“ weiterleben. Es kann passieren, dass es positive als auch negative Einschnitte gibt, an die man sich auch Jahre später noch erinnert. Andererseits gibt es auch Jahre, welche so nebensächlich und fast schon langweilig verlaufen, dass nichts Erinnerungswürdiges passiert.
Sind wir Kinder, ist für uns ein Jahr eine gefühlte Ewigkeit, die wir nicht begreifen können. Wir wissen, dass man das Alter in Jahren zählt, deswegen ist jemand mit fünf Jahren für einen Vierjährigen auch fast das Sinnbild von Weisheit. Je älter wir werden, umso mehr schwindet die Symbolhaftigkeit eines Jahres. Man fängt an, in Jahrzehnten oder mehr zu denken. „Ein Jahr“ ist lediglich noch dafür da, kurzfristig gesteckte Ziele zu erreichen.
Mehr Wert erhält „ein Jahr“ stets im Rückblick, wenn wir uns an die oben genannten einschneidenden Ereignisse erinnern. Hin und wieder hat man gefühlt ein gutes Jahr gehabt und möchte es Revue passieren lassen; ebenso passiert es bei einem gefühlt schlechten Jahr. Vermutlich unterscheiden sich diese beiden in der Realität aber kaum voneinander…
Wann aber hat „ein Jahr“ noch einen großen Stellenwert? Ganz besonders dann, wenn wir jemanden verloren haben. Was hätte diese Person in einem Jahr, im letzten Jahr nicht alles erleben können? So viele Ereignisse, ob gut oder schlecht, hätten die Anwesenheit dieser geliebten Person gefordert. Ein Jahr lang besteht eine manchmal sichtbare, manchmal unsichtbare Lücke, welche auf Dauer nicht gefüllt werden kann. Romantisieren wir das Ganze? Vielleicht liegt es in der Natur des Menschen, in seiner Art zu trauern. Dennoch scheint eines festzustehen: Wenn wir jemanden Geliebtes verloren haben, ist nichts so emotional wie das erste Jahr danach. Ein Jahr voller widersprüchlicher Gefühle, die sich weder zählen noch ordnen lassen.